Berlin Hauptbahnhof: Die Zivilgesellschaft heisst Geflüchtete aus der Ukraine willkommen

#Ukraine #Krieg #Zivilgesellschaft #Solidarität #Migration

13. März 2022

 

8. März 2022. Der russische Krieg in der Ukraine hat die Gesellschaften in Europa kalt erwischt. Am Berliner Hauptbahnhof haben Freiwillige innerhalb weniger Tage die Begrüßung der Kriegsflüchtlinge organisiert.

Nepthys Zwer

Seit dem 24. Februar 2022 haben über 2,5 Millionen Menschen die Ukraine verlassen, um den vorrückenden russischen Panzern und Bombenangriffen zu entkommen. Sie fliehen in die westlichen Nachbarländer: Polen, Ungarn, Slowakei, Rumänien und Moldawien. Polen hat zum 8. März 1 412 503 Menschen aufgenommen, aber schon bald stellte die Deutsche Bahn ihre Züge für die Flüchtlinge zur Verfügung [1].

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Berlin, Hauptbahnhof.

Der Berliner Hauptbahnhof ist de facto zum zentralen Anlaufpunkt für Menschen geworden, die aus der Ukraine nach Deutschland einreisen. Die staatlichen Stellen hatten nicht genug Zeit, um sich auf die große Zahl der Ankommenden einzustellen. Angesichts des nicht anhaltenden Stroms von Menschen, die den Zügen entsteigen, haben Freiwillige ihre Aufnahme organisiert und übernommen.

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Freiwillige liefern selbstvorbereitete Mahlzeiten.

8. März, 11 Uhr morgens. Eine kleine Gruppe schiebt einen Wagen zum Haupteingang des Bahnhofs: Hunderte von Mittagessen, zubereitet von Leuten, die beruflich kochen. Sie gehören keiner offiziellen Einrichtung an. Sie tun es, „weil es notwendig ist“.

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Chris. Seit 6 Uhr früh hat der junge Mann unzählige Menschen beraten und ihnen den Weg gewiesen.

Auf dem Bahnhofsvorplatz führt Chris eine Flüchtlingsfamilie zum Bus. Es ist sein zweiter Tag. Er konnte die Bilder des Krieges im Fernsehen nicht mehr ertragen. Er wollte nicht untätig bleiben, hilflos. Eine seiner Freundinnen befindet sich derzeit in Kiew.

Die gelbe oder orangefarbene Weste ist das Erkennungszeichen der Helferinnen und Helfer. Ausgestattet mit einer Übersetzungs-App erklärt er Ankommenden, wie sie weiterreisen sollen und beantwortet ihre Fragen: Wie bekomme ich ein Ticket? eine Sim-Karte? wo finde ich einen Schlafplatz? wo einen Imbiss?

Mit dem „Helpukraine-Ticket“ können Personen mit ukrainischem Pass kostenlos mit der Deutschen Bahn fahren. Viele, die mit den eigens gestellten Zügen in Berlin ankommen, sind völlig orientierungslos.

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Wie kommt man in einem Bahnhof zurecht, ohne die Landessprache zu beherrschen?

Die Aufnahmeheime in Berlin sind überfüllt, zusätzliche müssen ausfindig gemacht werden. Die Menschen müssen weiterreisen. Aber in einem Bahnhof kann bereits ein falscher Vokal in die Irre führen, wenn man etwa Homburg nicht von Hamburg unterscheiden kann. Manche haben Glück, weil sie ein Ziel haben, den Namen einer ihnen unbekannten Stadt, in der aber Familie oder Freunde auf sie warten. Schwieriger ist es, nicht zu wissen, wohin die Reise überhaupt weitergehen soll.

Chris beobachtet die Umgebung, achtet auf Personen, die sich verdächtig verhalten und schlägt Alarm, wenn er glaubt, dass es sich um einen Menschenhändler handeln könnte. Von Anfang an haben die Freiwilligen ein Monitoring-Netzwerk aufgebaut. Wo individuelle Hilfe Risiken birgt, bietet die kollektive Organisation Sicherheit.

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Viola lotst Ankommende zu den Bussen nach Paris. Sie möchte anonym bleiben.

Unten, am Ende einer der Rolltreppen, wartet Viola, bereit, Menschen zum Bus nach Paris zu führen. Es sind diejenigen, die ein Wohnungsangebot gefunden haben. 2015 hatte die junge Frau den Krieg in Syrien alleine und hilflos von ihrer Kleinstadt aus miterlebt, doch in Berlin spürt sie, dass sie sich in einem Kollektiv nützlich machen kann: „Ich habe zu Hause eine Kommode von meiner Großmutter. Sie wurde bei einem Bombenangriff im Zweiten Weltkrieg beschädigt. Ich schaue die ganze Zeit auf diese Kommode und denke, dass uns das auch passieren kann. So ist es meiner Großmutter ergangen und auch ich möchte, dass mir Menschen helfen, wenn ich es brauche. Deshalb helfe ich, wo ich kann.“

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Mit dieser App melden sich Freiwillige für den Tageseinsatz.

Es gibt ein oder zwei Züge pro Stunde, die zwischen 800 und 1 000 Menschen bringen, wobei es in regelmäßigen Abständen zu einem großen Ansturm kommt. Viola zeigt uns die App, in der sich die Freiwilligen registrieren. Vor Ort werden sie dann von KoordinatorInnen an einen Platz verwiesen, an dem sie ihre Hilfe anbieten können. Um diese Zeit sind in der Station 232 Helferinnen und Helfer im Einsatz.

Eine Gruppe kommt an, Frauen, alte Leute, viele Kinder, in Parkas eingmummelt, überall Bommelmützen, kleine bunte Rucksäcke, viele Kuscheltiere ... in den Plastiktüten sind nur Kleidung, Schuhe, Essen.

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Ankunft eines Zuges.
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Die Hälfte der Helfenden spricht Ukrainisch oder Russisch.

Auf einem Zwischendeck haben die Freiwilligen eine Ausgabesstelle eingerichtet. Sachspenden sind ein logistisches Problem: sie müssen gelagert und verteilt werden. In der unteren Etage befindet sich ein Ruhebereich mit Matratzen auf dem Boden.

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Ausgabestelle.
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Orientierungshilfe.

In diesem Trubel sucht Dídac nach einer Familie, der er auf dieser Etappe ihrer Reise helfen wird. Der LGBT-Aktivist kommt aus Spanien und heute ist sein erster Tag als Freiwilliger. „Ich konnte nicht zu Hause bleiben. Ich muss helfen. Diesen Menschen geht es schlecht, sie haben alles verloren“, erklärt er. Ja, die Leute wissen, was die Regenbogenfahne bedeutet, die er stolz auf seiner Brust trägt. „Sie sagt, dass jede und jeder willkommen ist, unabhängig von Hautfarbe, Nationalität, Religion oder sexueller Orientierung. Wir sind alle Menschen!“

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Dídac.

Genau aus diesem Grund hat die Zivilgesellschaft unmittelbar auf die Not reagiert. Mitmenschlichkeit ist die einzige Möglichkeit, dem Krieg die Spitze zu nehmen.

Die Nachkriegsgeneration, die heute den Krieg vor ihrer Haustür entdeckt, steht unter Schock. Angesichts der beispiellosen, beängstigenden Situation wird hoffentlich eine entscheidende, sinnhafte Frage Bedeutung erlangen: Was ist ein Migrant/eine Migrantin, ein Flüchtling, ein Mensch, der Asyl sucht? Gibt es gute oder schlechte Gründe, vor Krieg und Elend zu fliehen? Gibt es Menschen, die man aufnehmen sollte, und andere nicht? Seit 1993 hat es 45 000 Tote an den Grenzen der Europäischen Union (EU) gegeben. Der russische Krieg in der Ukraine führt uns eine einfache Gleichung vor Augen: heute bist du es, morgen könnte ich es sein.

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Das vom Berliner Senat bereitgestellte Zelt.

Die EU hat vorübergehende Schutzmaßnahmen ergriffen, um „ukrainische Staatsangehörige und Personen, die die Ukraine zu ihrem Lebensmittelpunkt gemacht haben, sowie ihre Familienangehörigen“, die auf der Flucht sind, ohne besondere Formalitäten aufzunehmen.

Vor dem Bahnhof hat der Senat, die Berliner Landesregierung, ein weißes Zelt aufgestellt. Diese offizielle Anlaufstelle empfängt mittlerweile die Flüchtlinge bei ihrer Ankunft in Berlin. Der ehemalige Flughafen Tegel wird in ein Empfangsgebäude umgewandelt. Die Idee ist, die zivilgesellschaftliche Hilfe abzulösen. Die nächsten Aufgaben sind die Verteilung der Neuankömmlinge auf die verschiedenen Bundesländer, die Schulbildung der Kinder, ihre Integration, die Finanzierung dieser Maßnahmen...

↬ Nepthys Zwer

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Ein Bild von Sasha. Der kleine Junge sitzt in einem Zug, der Deutschland durchquert. Die Hälfte der Passagiere sind Kriegsflüchtende, einige werden am Frankfurter Flughafen aussteigen. Müde, schweigsame Menschen. Vor der Abfahrt hat Sasha noch schnell seinen Fahrradhelm an seinen Rucksack gehängt.

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